Lúcios Verwandlung

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner

Am nächsten Tag, nach dem Mittagessen, lief ich entschlossen durch die Küchentür bis ins Wohnzimmer. Alzira saß auf dem Sofa und sah auf ihre Hände. Ich erinnere mich, dass der Fernseher lief und dass Der goldene Esel auf dem Nachtisch in der Ecke lag. Ich bellte, um auf mich aufmerksam zu machen. Mit der Schnauze schaltete ich den Fernseher aus, zerrte einen Stuhl heran, sprang auf den Stuhl, schnappte mir das Buch auf dem Tisch, sprang mit dem Buch zwischen den Zähnen wieder hinunter, schlug es auf und begann, unverhohlen darin zu lesen.

Alzira kniete sich vor mich hin. Ich erinnere mich, wie sie mich an den Schultern fasste. Ich erinnere mich an ihre feuchten Augen, die versuchten, in meine einzudringen. Ich leckte ihr die Nase, leckte ihre Tränen weg und wedelte mit dem Schwanz.

Dann nahm mich Alzira mit in ihr Zimmer. Sie legte mich aufs Bett und setzte sich vor mich hin. Anhand von Gesten gab sie mir zu verstehen, ich solle ihr zuhören. Mit Hilfe ihrer Hände erklärte sie mir, dass sie früher, vor längerer Zeit, sehr unglücklich gewesen war. Sie machte ein trauriges Gesicht und tat so, als kullerten ihr die Tränen vom Gesicht. Dann, alles mit den Händen, erwähnte sie eine Person. Ihren Freund, wie es schien. Alzira schloss die Augen. Sie lächelte träumerisch. Streichelte sich über die Brust. Gab Küsschen in die Luft. Zeigte, wie froh sie war. Ihr Geliebter war wie ein Licht in ihrem Leben gewesen. Der verzauberte Prinz. Die Erlösung, auf die sie gewartet hatte. Und Alzira versuchte, immer mit Hilfe von Gesten, von ihrer Liebe zu erzählen. Sie beschrieb, wie sie beide zusammen gewesen waren, die Umarmungen, die Zärtlichkeit. Die Zeit verging. Sie machte ein besorgtes Gesicht. Zeigte auf ihren Bauch. Deutete an, dass sie schwanger geworden war. Ihre Verzweiflung zum Ausdruck bringend, lief sie durchs Zimmer. Sie hielt sich den Hals, als ersticke sie. Ich lag auf dem Bett und verfolgte ihre Geschichte, die sie ohne ein einziges Wort erzählte. Alzira schwoll die Brust, als hätte sie eine wichtige Entscheidung getroffen. Sie hatte beschlossen, ihren Vater aufzusuchen. Das war ein bedauerlicher Fehler gewesen, wie man ihrer Grimasse entnehmen konnte. Der Vater war anscheinend fuchsteufelswild geworden. Er schlug seine Tochter. Beschimpfte sie. Trat sie. Er wollte sie augenblicklich zum Arzt bringen, damit sie das Kind abtrieb. Alzira lief durchs Zimmer. Sie legte die Hände auf den Unterleib, wie um ihn zu schützen. Auf keinen Fall wollte sie das Kind abtreiben lassen. Sie erzählte, dass sie weggelaufen war, um ihren Freund zu suchen. Dass er erschrak, als er erfuhr, dass sie schwanger war. Er fand, dass alles ihre Schuld sei und dass sie das Kind nicht behalten konnte. Wenn ich es richtig verstanden habe, wurden sie am Ende sogar handgreiflich. In ihrer Ratlosigkeit rannte sie schließlich wie eine Verrückte davon, überquerte die Straße, wurde von einem Auto erfasst und verlor das Kind.

Ich erinnere mich an die Tränen, die mir über die Schnauze liefen.

Alzira setzte sich auf den Fußboden. Sie sah mich an, öffnete den Mund und zeigte mit dem Finger darauf. Seitdem, so gab sie mir zu verstehen, hatte sie nie wieder ein Wort sprechen können.

 

Alziras Geschichte, lieber Leser, hat mich tief berührt. In jener Nacht konnte ich kaum schlafen. Gedanken, Erinnerungen und Gefühle überkamen mich wie ein Schwarm Wespen, die um meinen Kopf herum summten und auf mich einstachen.

Am nächsten Morgen kam Alzira herunter, deckte den Tisch, frühstückte mit ihrem Vater und ging in die Schule, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Seltsam, dachte ich.

Am Nachmittag dasselbe. Und am nächsten Tag auch. Alzira fing an, mich zu meiden. Sie tat so, als würde ich gar nicht existieren, als wäre nichts zwischen uns gewesen. Ich verstand nicht, was los war, bis zu dem Tag, an dem ich im Garten saß und sah, wie sie mich von ihrem Fenster aus betrachtete. Ihr Gesichtsausdruck war angespannt. Die Augen voller Angst, eine Mischung aus Beklemmung, Panik und Entsetzen. Es bestand kein Zweifel, lieber Leser. Meine Freundin hatte das Gefühl, verrückt zu werden.

Obwohl ich traurig war, konnte ich sie verstehen. Es war nichts gegen mich, ich hatte ja auch niemandem etwas getan, aber die Tatsache, dass ich ein Hund war und gleichzeitig die Dinge tat, die ich tat, muss schon sehr verstörend gewesen sein. Meine arme Freundin konnte nicht damit umgehen, dass dieser Hund, nämlich ich, gleichzeitig bellte, mit dem Schwanz wedelte und lesen konnte.

Von da an, lieber Leser, blieb ich morgens, wenn Alzira in der Schule war, wieder allein in meiner Ecke, hinter einem Strauch in der Nähe der Waschküche, und dachte nach.

Während meiner gesamten Reise, seit meiner unsäglichen Verwandlung, hatte ich niemanden wie Alzira getroffen, niemanden, bei dem ich tatsächlich soviel Vertrautheit und Übereinstimmung gefunden hätte. Ganz ungewollt hatte ich eine Verbindung zu diesem Mädchen aufgebaut. Ich hatte ihr Vertrauen gewonnen. Ich hatte gelernt, sie zu akzeptieren und zu mögen. Ich hatte mehr oder minder gelernt, ihre Probleme zu verstehen und sie nicht länger als eine Erscheinung oder eine idealisierte Figur zu betrachten, sondern als realen Menschen, mit Stärken und Schwächen, der seinen Weg in der Welt ging. Ich empfand Freundschaft für Alzira. Ich fand, dass sie etwas Besonderes war. Ich wünschte ihr von ganzem Herzen, das schwöre ich, unabhängig von allem anderen, dass sie eines Tages glücklich würde.

Für sie, da hatte ich keine Zweifel, war ich inzwischen auch schon zu so etwas wie einem Freund geworden, und genau das war der Punkt. Alzira war zu jenem Zeitpunkt der einzige Mensch, dem ich vertrauen konnte. Sie allein konnte vielleicht das Interesse und die Geduld aufbringen, mir zuzuhören und mich ernst zu nehmen. Sie allein war vielleicht in der Lage, die ungewöhnliche und unerklärliche Situation zu verstehen, in der ich mich befand. Nur sie, dachte ich, konnte mir dabei helfen, nach Silveiras zu kommen und – wie, wusste ich nicht – einen Weg zu finden, mich aus meiner misslichen Lage zu befreien.

Zum ersten Mal, lieber Leser, seit dem bedauerlichen Unfall in Tante Vandas Garten, verspürte ich wirklich den Drang, sprechen zu wollen.

Also versuchte ich es. Zuerst dachte ich mir einen kurzen Satz aus. Dann fing ich an zu üben. Jeden Tag, bei Regen und Sonne, bei Kälte und Hitze, tagsüber und sogar nachts, wenn es dunkel war, verbrachte ich Stunden damit, ihn auszusprechen.

Mund, Hals und Zunge eines Hundes – ich weiß, wovon ich rede, das könnt ihr mir glauben – sind zu allem gemacht, nur nicht zum Sprechen. Allein das Wort Alzira zum Beispiel. Da ich zur Spezies Hund gehörte, fiel es mir relativ leicht, den Laut Al auszusprechen. Dagegen schmerzte mein Mund bei dem vergeblichen Versuch, zi oder ra zu sagen.

Ich übte und übte und übte wie verzweifelt. Und wenn ich vollkommen erschöpft war, lieber Leser, und schon Krämpfe in Mund und Hals hatte, übte ich immer noch weiter.

Im Gebüsch versteckt, wie ein Einzelkämpfer, arbeitete ich wochenlang an meiner Aussprache, mit einer Disziplin, als kämpfte ich um mein Leben.

Eines Tages betrat ich das Haus, lief die Treppe hoch und kratzte an Alziras Tür. Ich erinnere mich, wie sie mich mit verschlafenem Gesicht hinein ließ. Ich erinnere mich, wie ich aufs Bett sprang. Ich erinnere mich, wie sie mich ansah. Ich erinnere mich, wie ich stammelte:

“Alzira, hilf mir!”

(trecho do livro Lúcio vira bicho. São Paulo, Cia das Letras, 1998)